Während sie aufwuchs, hörte die junge israelische Filmemacherin Mor Kaplansky immer wieder Geschichten vom legendären Café Nagler am Moritzplatz in Berlin. Vor allem ihre 88-jährige Großmutter, die in Israel bekannte Dokumentarfilmregisseurin Naomi Kaplansky, schwärmte in den höchsten Tönen von dem Ort, den auch sie selbst nie gesehen hat. Die Vorfahren von Naomi und Mor besaßen das Café, ehe sie 1925 nach Palästina auswanderten. Noch heute wird bei den Kaplanskys zu allen wichtigen Feiertagen das edle Geschirr und Besteck des Cafés herausgeholt und davon geschwärmt, dass das Nagler ein Ort war, an dem sich die Künstler und Intellektuellen der Weimarer Republik die Klinke in die Hand gaben, an dem das Nachtleben blühte und sogar der Swingtanz erfunden wurde.
Mor entschließt sich, nach Berlin zu reisen, um die Geschichte des Cafés vor Ort zu erkunden und darüber einen Dokumentarfilm zu drehen. Doch in Berlin angekommen, muss sie feststellen, dass das Gebäude gar nicht mehr existiert; es wurde schon im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört. An der Stelle des Naglers liegt nun ein verwilderter Park.
Die Regisseurin spricht mit Anwohnern, Stadtführern und Historikern, doch nicht einmal Archivare und Fachleute für die Kultur der Weimarer Republik wissen etwas über das Nagler. Immer wenn Mor glaubt, sie hätte endlich jemanden gefunden, der die Bedeutung des Cafés bezeugen könnte, wird sie enttäuscht. Ein älterer Herr etwa, der ihr bildreich von seinen Kindheitserlebnissen im Café erzählt, stellt sich als geistig verwirrt heraus - tatsächlich wurde er erst in jenem Jahr geboren, in dem das Café geschlossen wurde.
Mor muss sich allmählich eingestehen, dass das Nagler wohl nur ein nettes Kiez-Café war. Ihr Dokumentarfilmprojekt steht vor dem Scheitern. Vor allem für Ihre Großmutter wäre das, so glaubt Mor, eine riesige Enttäuschung, schließlich erkundigt sich die alte Dame regelmäßig nach den neuesten Rechercheergebnissen aus Berlin.
Da hat Mor die rettende Idee: Sie erfindet kurzerhand ihre eigenen Zeitzeugen. Dabei macht sie sich eine erstaunliche Entdeckung zu Nutze: In Berlin gibt es eine große Szene junger Leute, die sich für die Kultur der 1920er Jahre begeistern, zu Musik aus der Zeit tanzen gehen und sich im Stil der Weimarer Jahre kleiden. Mor lässt einige von ihnen falsche Familiengeschichten erzählen, in denen das Café Nagler eine wichtige Rolle gespielt habe - als Ort wilder Partys oder des ersten Rendezvous.
Bei der privaten Premiere des fertigen Films im Kreis der Familie Kaplansky ist Großmutter Naomi selig: Ihre Enkeltochter hat es tatsächlich geschafft, einen Film über das Café Nagler zu drehen und den Geist der vergangenen Jahre einzufangen...
Autor/Bearbeitung: Frank Ehrlacher
Update: 31.01.2019
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