Ein Bäuerin hat Regisseur Volker Koepp einmal von "Schaktarp" erzählt: die Zwischenzeit im Frühjahr, wenn das russische Eis die Memel herunter ins Haff drückt und das Schmelzwasser erneut überfriert. Menschen und Boote sind festgesetzt und von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Zeit des Wartens und des Stillstands – wie das Leben in diesem Landstrich: "Nicht so, nicht so."
Was ein Fluss und eine Landschaft bedeuten können:Koepp zitiert Novalis: "Alle Erinnerung ist Gegenwart". Elena erinnert sich daran, dass das Eis auf der russischen Seite der Memel besser geschmeckt hat als das litauische. Ein Fischer hat die Kinder damals für einen Rubel übergesetzt. Tanja weiß, dass Kiewer Rus und Galizische Rus für die Ukrainer identitätsstiftend sind. Aber: "Geschichte dichtet man auch oft zusammen." Für Koepp und Bobrowski war das Uferland Daubas ein Sehnsuchtsort ihrer Wanderungen: "Dunkelnd die Ufer hinauf, tönte das Schilf."
Czernowitz in der Bukowina gehörte einmal zu Österreich-Ungarn, dann zu Rumänien, dann zur Sowjetunion, heute zur Ukraine. Heute leben Ukrainer, Rumänen, Polen, Weißrussen und Deutsche hier. Und Juden. Wie Rosa Roth-Zuckermann, die Volker Koepp 1997 kennen lernte. Szenen aus Koepps Film "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" von 1998: Frau Zuckermann wundert sich, dass sie nach 50 Jahren einem Deutschen wieder die Hand geben kann. Sie erzählt über ihre Herkunft, dass sie wie alle Czernowitzer Juden aus Galizien stammt. Nun sei sie eine der letzten. Tanja traf Volker Koepp 2001 in Czernowitz, bei einer Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Rose Ausländer. In
"Dieses Jahr in Czernowitz" (2001) hatte sie dem Filmemacher erzählt, dass sie nach ihrem Studium in Czernowitz bleiben wolle, um etwas für ihr Land tun – denn die Czernowitzer Mentalität sei besonders, viele kämen woanders nicht zurecht. Heute erzählt sie, dass sie doch – wie so viele andere Junge – ins Ausland gegangen sei: zum Studium nach Jena, wo sie ihren späteren Mann kennen gelernt habe, mit dem sie mittlerweile zwei Kinder hat. In den Resten der Filmaufnahmen für "Dieses Jahr in Czernowitz" sieht man Ana in einem Zug sitzen. Sie begleitete Koepp 2002 als Übersetzerin und hatte ihre moldawische Heimatstadt Kischinau 1998 verlassen.
Ana ist nach ihrem Studium in Berlin für einige Zeit zurückgekehrt, um in der Nähe von Kischinau Filme zu drehen. Sie zeigt Koepp ihr Lieblingsdorf Trebuschen. Es gibt dort nur noch alte Menschen – und die Kinder, die die Generation dazwischen zurückgelassen hat. Ana hat mit den Alten einen Spielfilm gedreht – als sie sie sehen, sagen sie: "Wenn du wieder filmst, singen wir!" Das Filmteam bekommt Neuen Wein angeboten, den kann man in einem Zug austrinken, er ist nicht so stark. Weil die Jungen weggegangen sind, sterben die Traditionen, sagt Ana. Moldawien sei ein Land, das in der Mitte Europas liege, sich aber von Europa ausgeschlossen fühle, weil es so arm sei.
Frau Zuckermann wusste 1998 schon, dass die Jungen weg wollen – nach Amerika, oder wenigstens Deutsch lernen. Im Bild ist Felix zu sehen, ihr Sohn. Felix, 2012: Er ist in Czernowitz geblieben. Er kann nicht sagen, ob er es bereut. Das Weggehen und Weiterziehen ist seit jeher das Thema der Czernowitzer Juden gewesen: auch jetzt, nach der Orangenen Revolution, wollen 65% der Jungen ins Ausland. In jeder Zeitung stehen die Auswandererberichte, schon immer. Tanja findet, dass es doch schön sei, nach Glück zu streben.
Frau Zuckermanns und Herr Zwillings Gräber werden heute von Touristen aus Deutschland und Österreich besucht. Sie haben Koepps Film gesehen und legen heute Steinchen auf den Grabtafeln nieder. Tanja bei ihren Eltern. Obwohl sie in Deutschland lebt, bringt sie ihren Kindern Ukrainisch bei. Aber ihre Eltern bedauern, dass Tanja fortgegangen ist. Sie sähe jetzt die Ukraine mit den Augen der uropäerin. Was das genau heißt, will der Vater nicht sagen. Die Eltern erzählen, dass sie zu Sowjetzeiten nicht als Ukrainer erzogen wurden – bei ihren eigenen Kindern haben sie das aber anders gemacht. Der Mensch ist anpassungsfähig, vor allem, wenn es Wein gibt.
In der Nähe des Dorfes Diskova begegnet das Filmteam drei Jungs auf einem Pferdewagen. Sie haben Trauben geladen, für Wein, der nach Erdbeeren schmeckt. Die Moldauer seien fleißig, aber hier könnten sie nichts machen, sagen sie. Der große Bruder sei schon im sauberen Deutschland. Einer will zum Geldverdienen nach Moskau und später einen Laden eröffnen. Ana zeigt auf den Fluss Nistru, der die Republik Moldau von Transnistrien trennt. 1991 gab es hier einen achtmonatigen Bürgerkrieg, den das gerade unabhängige Moldawien gegen die 14. Sowjet-Armee führte, die in Transnistrien stationiert war. Koepp zitiert Frau Zuckermann, dass damals die Bukowiner Juden nach Transnistrien vertrieben wurden. Ana sagt, dass man über den Holocaust in Moldawien nicht viel wisse – im Kommunismus wurde verbreitet, dass das eine deutsche Angelegenheit gewesen sei. Russen, Rumänen und Moldawier haben jeweils eine eigene Geschichte Moldawiens geschrieben.
Einfahrt nach Kischinau, Anas Erinnerungen an ihre Gefühle, nach der ersten Reise in den Westen hierher zurückzukommen. Reisen sei immer überlebensnotwendig gewesen, schon für ihren Vater, sagt sie. In den 1950ern und 1960ern gab es viele Juden in Kischinau und nur wenig Moldauer. Nach der ersten jüdischen Auswanderungswelle haben sich Rumänen und Russen angesiedelt und mit den Moldauern vermischt. In den1990ern mussten viele ins Ausland, um Geld zu verdienen – auch Anas Vater ging nach Italien. Die kleinen Kinder wurden bei den Großeltern gelassen, sie sind heute unruhige Seelen: ihre eigene Gesellschaft braucht sie nicht, Europa will sie nicht. Die Sowjetunion ging mit ihren Werten unter, die neuen Werte sind auch schon wieder verkümmert, jetzt sind alle in Lethargie verfallen – sie wissen: höchstens in 20 oder 30 Jahren wird sich hier etwas ändern.
Anas kleiner Bruder Dragos spricht von den Spannungen zwischen Russen und Moldauern: in Moldawien würde man nur respektiert, wenn man russisch spräche. Das Rumänische habe man mit kyrillischen Schriftzeichen gelernt, vieles sei verkümmert und russifiziert. Nur auf den Dörfern würde noch Rumänisch gesprochen, allerdings mit Dialekt. In Anas und Dragos’ Elternhaus kommen und gehen die Familienmitglieder. Die Katze hat gelernt, sich immer auf jemand Neues einzustellen.
Koepp reist auf Empfehlung von Felix Zuckermann nach Uman, in die sarmatische Ebene. Hier war einst ein Zentrum des jüdischen Lebens. Seit Beginn der 1990er Jahre treffen sich hier jährlich zum jüdischen Neujahrsfest Zehntausende Chassiden aus aller Welt. Sie pilgern zum Grab des Rabbi Nachman, um Erlösung von ihren Sünden zu erlangen. Für drei Tage vermieten die Ukrainer dann ihre Wohnungen und ziehen zu Verwandten aufs Land. Das Filmteam beobachtet chassidischen Unterricht, singende Schüler. Manche wollen am Schabbat nicht gefilmt werden. Frauen sind in Uman während Rosch ha-Schana nicht erlaubt. Den Männern wird Erlösung durch Psalmlektüre versprochen, Mittel gegen das schlechte Glück, ein blauer Stein gegen den bösen Blick. Koepp bleibt nicht lang.
Unterwegs hat Tanja Koepp von den schlimmsten Jahren der ukrainischen Geschichte erzählt, 1932/33, als Millionen Bauern verhungerten oder erschossen wurden. Stalins Neuordnung der Landwirtschaft wurde mit Gewalt durchgesetzt, vor allem Frauen und Kinder fielen dem zum Opfer. Koepp erinnert an den Holocaust in Sarmatien. Allein in Weißrussland wurden zwischen 1941 und 1944 mehr als ein Viertel der Bevölkerung ermordet, fast alle Städte und Dörfer zerstört. Auf dem Weg an der Memel entlang zur Ostsee besuchen Koepp und sein Team die weißrussische Stadt Grodno. Zufällig sehen sie vier Männer ein Holzhaus bauen und lernen Zhenja kennen. Er verkauft diese Häuser nach Europa, er hat Fremdsprachenkenntnisse erworben. Er liebt sein Land, ihm macht aber die "politische Stabilität" Sorgen. Seit 1996 der gleiche Präsident, die Exekutive handle unkontrolliert, man könne aus politischen Gründen im Gefängnis landen. Die Jungen, so wie er, wünschen sich den Anschluss an Europa, Veränderungen, neue Ideen. Er erinnert an das Großfürstentum Litauen, dessen Statuten auf Weißrussisch verfasst waren. Jetzt werde überall russisch gesprochen, das Land sei wirtschaftlich abhängig, ein russisches Anhängsel, die Grenzen würden von russischen Flugzeugen überwacht. Wer wähle, muss den Präsidenten wählen; wer nicht wähle, kann Probleme bekommen.
Auch aus dem Kaliningrader Gebiet gehen die Jungen fort. Elena allerdings, in Sibirien geboren und an der Memel aufgewachsen, ist auch nach ihrem Studium in Kaliningrad geblieben. Außerhalb dieser Stadt allerdings, so weiß sie, sind die Ortschaften trostloser als zu Sowjetzeiten. Sie organisiert ein Festival in einem der schönsten Kinos in Europa, dem Scala in der Herrengasse. Sie erinnert sich, wie sie 1994/95 in Halle an der Saale im Kino "Kalte Heimat" gesehen hat. Sie habe aus Scham geweint, es war ihr peinlich, aus diesem Land zu kommen. Jetzt, als Kaliningraderin, wartet sie auf Verbesserungen: man befinde sich zwischen den EU-Staaten Polen und Litauen, aber Demokratie in Russland ist kaum vorstellbar. Wenn es nicht besser wird, will Elena das Land verlassen. Bilder aus "Kalte Heimat" tauchen auf. Bluma und ihr Mann in Svetlogorsk, altdeutsch "Rauschen". Sie erzählt von ihm, der stumm bleibt, wie ihn die Russen unter Folter gezwungen hätten, sich als Stalingegner zu erkennen zu geben. Sie stammten aus Grodno und Uman, haben sich im weißrussischen Molodetschno kennen gelernt und schließlich, 1949, an der Ostsee ein Haus gebaut.
Tanja und zwei Freundinnen erzählen in Czernowitz von der Lethargie, die sich nach der Orangenen Revolution eingestellt habe. Man wolle eigentlich nicht weg, aber hier könne man nur leben, wenn sich etwas ändere, wenn die Rechte der Bürger geschützt würden. Eigentlich müsse man gemeinsam auf die Straße, doch man werde eingeschüchtert und hätte kaum noch die Kraft, sich mit Politik zu beschäftigen. Koepp besucht mit Tanja ihren Onkel in Galizien. Dessen Vater wurde wegen eines Sacks Weizen noch zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Trotzdem ist die Familie geblieben, habe ein zweites Haus gebaut, schließlich das erste vergrößert. Tanjas Cousine Anja erzählt von den Problemen der Jugend, den Schwierigkeiten, die Familien zusammenzuhalten. Sie selbst habe studiert, gearbeitet, dann Kinder bekommen. Ihr Mann musste allerdings nach Spanien, sie hat ihn erst sieben Jahre später wiedergesehen. Ein Bruder und eine Schwester sind auch in Spanien, Anja lässt ihre kleine Nichte bei sich aufwachsen. Tanja, ihre ältere Cousine, lebt in Deutschland. Ihr Traum ist, dass alle wieder zusammen kommen. Bis dahin kann sie nichts anderes tun, als auf Veränderung zu warten.
Elena in Svetlogorsk. Erinnerung an ein Rendezvous. Ihr Freund hat ihr am Strand das Fliegen beigebracht. Jeder, der Freiheit im Herzen trägt, kann fliegen. In den 1990ern haben einige ihre Träume verwirklicht. Aber es war auch eine besonders schwierige Zeit, die Menschen dazu gebracht habe, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Das Gefühl, etwas verändern zu können, käme jetzt wieder. Und wenn es schief geht, versuche man es eben wieder. "Wir haben nicht mehr so viel Zeit, um glücklich zu werden." In einer Szene aus "Kalte Heimat" singt Bluma: "Mein Lied, flieg mit meinem Flehen, schlaf im Dunkel der Nacht"...
Autor/Bearbeitung: Frank Ehrlacher
Update: 31.01.2019
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